FROM GROUND TO HORIZON
Alicja Rogalska
13 November 2021 — 1 Mai 2022
Fr 12 November, 19 Uhr
Eröffnung mit Essen von Pyszny Bar (Andra & Hanich)
Sa 13 November, 16 Uhr
Führung mit der Künstlerin, der Kuratorin und dem Ausstellungsdesigner
Das Schaffen von kollaborativen Situationen, Prozessen und Aktionen definiert die künstlerische Praxis von Alicja Rogalska. Häufig arbeitet sie mit Menschen zusammen, die in prekären wirtschaftlichen Kontexten leben. So entstanden bereits Arbeiten mit AktivistInnen, ForscherInnen, WanderarbeiterInnen, Menschen, denen die Staatsbürgerschaft entzogen wurde, mit Pflegekräften, StraßenmusikerInnen, juristisch ausgebildeten AsylbewerberInnen, Jungbauern, Volksgesangsgruppen und vielen mehr. Aus diesen Interaktionen entstehen temporäre Kollektive, die auf der Grundlage einer gemeinsamen Lebenssituation, Klasse, politischen Überzeugung oder eines Engagements für gesellschaftlichen Wandel gebildet werden. Die in den kollektiven Prozessen entstandenen Videos, Bilder und Objekte stellen die Momente der Handlungsfähigkeit, Rebellion und Solidarität in den Vordergrund. Die Logik des Kapitalismus hinterfragend versuchen sie, einen Raum für die Vorstellung anderer, gerechterer Lebensmöglichkeiten zu schaffen.
Die Ausstellung von Alicja Rogalska in der Temporary Gallery, Zentrum für zeitgenössische Kunst in Köln, kuratiert von Aneta Rostkowska, ist Rogalskas erste Einzelausstellung in Deutschland. Sie präsentiert Kunstwerke aus den Jahren 2011 bis 2021. Das immersive landschaftsähnliche Ausstellungsdesign wurde von Mateusz Okoński entwickelt. Die Präsentation wird begleitet von einem umfangreichen öffentlichen Programm, darunter eine Aktion im öffentlichen Raum, ein KünstlerInnengespräch, eine Führung, eine Lesung, ein Vortrag über sozial engagierte Kunst sowie ein Wellnesstag für Kölner StadtaktivistInnen. Weitere Informationen finden Sie auf unserer Website oder in unserem Newsletter.
Die Ausstellung entsteht mit Unterstützung des Berliner Künstlerprogramms des DAAD.
Sie ist Teil des Jubiläumsprogramms beuys 2021.
Der Flyer zur Ausstellung enthält einen begleitenden Text von Tirdad Zolghadr.
Alicja Rogalska, in Polen geboren, ist als interdisziplinäre Künstlerin international tätig und lebt in London und Berlin. In ihrer forschungsorientierten Praxis beschäftigt sie sich mit sozialen Strukturen und dem politischen Subtext des Alltäglichen. Meist arbeitet sie in spezifischen Kontexten, in denen sie im Kollektiv mit Anderen Situationen, Performances, Videos und Installationen entwickelt, um gemeinsam nach emanzipatorischen Ideen für die Zukunft zu suchen. Rogalska hat einen Master in Kulturwissenschaften der Universität Warschau und einen MFA in Bildender Kunst vom Goldsmiths College, wo sie derzeit als Doktorandin im Fachbereich Kunst tätig ist. Ihre Werke waren zuletzt an folgenden Orten zu sehen: Kunsthalle (Bratislava, 2021), Kunsthalle Wien (Wien, 2020–2021), OFF Biennale (Budapest, 2020–2021), Tabakalera (San Sebastián, 2020), VBKÖ (Wien, 2019), Art Encounters Biennale (Timișoara, 2019), Tokyo Photographic Art Museum (Tokio, 2019), Biennale Warszawa (Warschau, 2019), Museum of Modern Art (Warschau, 2019), Kyoto Art Centre (Kyoto, 2019) und Muzeum Sztuki (Łódź, 2019). Aktuell hat Rogalska eine Künstlerresidenz der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Essex (2019–2021) inne und ist Fellow des Berliner Künstlerprogramms 2020 des DAAD. Zu ihren letzten Künstlerresidenzen gehören: City of Women Festival (Ljubljana, 2019), Stuart Hall Library (London, 2019), PARADISE AIR (Matsudo, 2018), Copenhagen International Theatre (Kopenhagen, 2018), MuseumsQuartier (Wien, 2018) und IASPIS (Stockholm, 2017).
Kuratorischer Text zur Ausstellung:
Ich war noch in der Grundschule, da heiratete meine Tante einen schwedischen Bauern. Von da an verbrachte ich meine Sommerferien mit der Familie auf dem Hof in Schweden, wo wir unserem Onkel halfen, aber auch Geld verdienten: Meist ernteten wir Gurken, gelegentlich halfen wir jedoch auch auf Nachbarhöfen aus, wo wir Kartoffeln oder rote Bete vom Unkraut befreiten oder Erdbeeren pflückten. Für mich ein perfektes Arrangement: Ich konnte im Haus meiner Tante wohnen und hatte – an den Tagen, an denen die Gurken wuchsen – richtige Ferien, die ich damit verbrachte, im See zu schwimmen und Pilze zu sammeln, sie zu trocknen und zuzubereiten. Die Arbeit war hart, wir mussten morgens um vier Uhr aufstehen und verbrachten dann viele Stunden auf einer seltsamen Maschine mit dem Spitznamen „Das Flugzeug“, auf der wir uns hinlegen mussten, um die geernteten Gurken auf ein Förderband unter uns zu werfen. Gezogen wurde das Ganze vom Traktor meines Onkels. Die Gurken rollten unter uns in eine große Kiste. In den Pausen servierte meine Tante allen Kaffee und selbstgebackenen Kuchen. Pro Gurkenbeet waren zwei Leute eingeteilt und wir konnten uns bei der Arbeit unterhalten, sodass die Zeit wesentlich schneller verging. Nie werde ich den scharfen Geruch der Gurkenpflanzen am Morgen vergessen, ein Geruch, der für mich auf ewig mit der Erinnerung an das frühe Aufstehen und die unglaubliche Müdigkeit danach verbunden sein wird. In meiner Familie hat fast niemand studiert, und so war dies auch die Zeit, in der ich häufig mit Menschen zusammen war, mit denen ich später angesichts meiner Ausbildung und meines beruflichen Werdegangs kaum noch zu tun hatte. Unser Miteinander gestaltete sich jedoch unkompliziert: Die gemeinsame Basis war die Arbeit, meine Tante kochte ein fantastisches polnisches Abendessen für uns, und am Nachmittag spielten wir Karten. Dank dieser Erfahrung weiß ich, wie hart die Arbeit in der Landwirtschaft ist und wie wenig wir über die Bedingungen wissen, unter denen unsere Nahrung produziert wird. Gurken, Tomaten, Spargel, Kartoffeln, sie alle haben sich in den Händen eines anderen Menschen befunden, der sie mit seinen Fingern behutsam von der „Mutterpflanze“ getrennt hat... Vielleicht haben Sie vor vielen Jahren eine Gurke oder Erdbeere gegessen, die ich geerntet habe. Stellen Sie sich das vor!
Erst viel später wurde mir klar, wie privilegiert meine damalige Situation eigentlich gewesen war: Ich wurde angemessen bezahlt, hatte eine anständige, kostenlose Unterkunft, nette Gesellschaft, Essen und genoss die Fürsorge meiner Tante. Nach einem Sommer, in dem ich ohne Arbeitserlaubnis in Dublin gearbeitet hatte (Polen war noch nicht in der EU, aber ich hatte den Job bekommen, weil der Besitzer des Restaurants ein großer Fan des polnischen Papstes war) und mehrere Wochen zum Erdbeerpflücken auf der deutschen Insel Fehmarn gewesen war (wir wohnten in einem Wohnwagen; ein Foto von mir und meinem Freund bei der Arbeit auf dem Feld landete sogar in einer Lokalzeitung), wo unser Chef am Tag der Abschlusszahlung spontan beschloss, unseren Stundenlohn zu kürzen, so dass jeder von uns ein paar hundert Euro weniger bekam, wurde mir klar, dass die Arbeitssituation, die ich in Schweden erlebt hatte, eher eine Ausnahme als die Regel gewesen war. Meist sind die Bedingungen wesentlich schlechter, und das Schicksal der ArbeitsmigrantInnen hängt von den Launen des jeweiligen Arbeitgebers ab. Die Macht ist ungleich verteilt, und es kommt auch vor, dass andere ArbeiterInnen dir gefährlich werden (schließlich hast du einen Job, den im nächsten Jahr jemand aus ihrer Familie bekommen könnte ...). Jahre später, als Kuratorin, habe ich mich instinktiv der Kunst zugewandt, die sich mit wirtschaftlichen Themen befasst. Bei meinen ersten kuratorischen Projekten ging es meist um öffentliche Kunst, aktivistische Kunst, Denkmäler und mögliche Alternativen zum Kapitalismus. Ich lernte die Feinheiten sozial engagierter Kunstprojekte kennen, ihre Spannungen und ideologischen Fallstricke, aber auch die kollektive Schönheit, die dort entsteht und betrachtete Kulturzentren zunehmend als sehr gute Inspiration für Kunstinstitutionen. Ich respektierte es, dass KünstlerInnen die Realität in ihrem Umfeld beeinflussen und die „Kunstblase“ oder Kunst als „elitäre Unterhaltung“ hinter sich lassen wollten, gehörte meine Familie doch ganz und gar nicht zu irgendeiner „Elite“. Rückblickend denke ich, dass mir diese Erfahrungen eine gewisse Sensibilität in meiner kuratorischen Praxis verschafft haben, die mir zusätzliche Energie verleiht und mich zutiefst überzeugt sein lässt, dass Kunst die Fähigkeit besitzt, schwierige Lebensumstände offenzulegen und auch, gegen diese vorzugehen.
Es sind wohl all diese Erfahrungen, die dazu führen, dass mich die Arbeit von Alicja Rogalska besonders anspricht, und in der Tat ging es bei unserer ersten Zusammenarbeit um das Thema Landwirtschaft. Gemeinsam organisierten wir das Festival „CULTIVATION – National Festival of Short Agricultural Films“, das im Rahmen des Art Boom Festival 2015 in Krakau stattfand. Die Veranstaltung war einem populären polnischen Internetphänomen gewidmet, bei dem in kurzen Videos die Ernte und andere landwirtschaftliche Tätigkeiten gezeigt wurden. Viele dieser Filme sind sehr gut gemacht, mit Kamera-Drohnen und sorgfältig ausgesuchter Musikuntermalung. Alicja lud mehrere der FilmemacherInnen aus der Landwirtschaft nach Krakau ein, wo wir ihre Filme in der Aula der landwirtschaftlichen Universität zeigten. Dabei nominierten die LandwirtInnen auch Filme, die während des Festivals gezeigt werden sollten, und das Publikum wählte dann einen Gewinner. Bei den Filmen handelt es sich um Darstellungen, die von den LandwirtInnen selbst stammen, eine künstlerische Basisproduktion, die von ihnen sehr ernst genommen wird (es gibt sogar in diesem Bereich tätige Kollektive aus mehreren LandwirtInnen, die sich zusammen getan haben, um Filme zu drehen)[1]. Um eine Dekontextualisierung und Exotisierung des Phänomens zu vermeiden, hatte Alicja verschiedene WissenschaftlerInnen eingeladen, die Filme aus unterschiedlichen Perspektiven zu kommentieren: soziologisch, wirtschaftlich, ethnografisch und politisch. Sie analysierten die Kunstwerke und ließen dabei auch einige problematische Aspekte nicht außer Acht, darunter die Tatsache, dass viele der LandwirtInnen riesige Kredite aufnehmen, um landwirtschaftliches Gerät zu kaufen (obwohl manchmal eine Maschine pro Dorf ausreichen würde) oder sich zur industriellen Lebensmittelproduktion hingezogen fühlen (was die örtliche Lebensmittelkooperative sogar dazu veranlasste, unsere Einladung zur Zusammenarbeit mit dem Festival abzulehnen). Gemeinsam mit den geladenen Gästen gelang es Alicja, ein komplexeres Bild des ländlichen Raumes in Polen zu vermitteln, eines, das über gängige Projektionen und Klischeevorstellungen hinausging. Und: Bis heute gehören die LandwirtInnen zu unseren Facebook-FreundInnen, und gelegentlich taucht dort Werbung für den Verkauf von 50kg Kohl oder 100kg Kartoffeln auf. Wir haben immer noch die Hoffnung, dass sie eines Tages ein eigenes Festival organisieren und wir sie dann wiedersehen können.
Was mir bei der Zusammenarbeit mit Alicja damals besonders auffiel, war ihre Fähigkeit, auf Menschen mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund und unterschiedlicher Lebenserfahrung einzugehen. Die Art und Weise, wie sie mit Menschen arbeitet und langfristige Beziehungen zu ihnen aufbaut, ist wirklich außergewöhnlich. Ihre Inspirationen bezieht sie aus verschiedenen Quellen wie der alternativen Pädagogik, dem Feminismus, dem partizipativen Theater oder den Community Arts. Ihre Arbeitsmethode besteht in der Regel darin, eine Art „Situation“ zu erschaffen, zum Beispiel einen Workshop oder ein Spiel, zu dem sie die Menschen, um die es geht, dann einlädt. Der Prozess innerhalb dieser Situation wird häufig gefilmt und die entstandene Dokumentation später von der Künstlerin bearbeitet. Ein wichtiger Teil der Postproduktion besteht darin, den Beteiligten das Video zu zeigen, um ihr Feedback und ihre Zustimmung einzuholen. Alicjas Arbeitsweise ist geprägt von Respekt gegenüber den TeilnehmerInnen, für das Endergebnis zeichnet sie jedoch
allein verantwortlich: Obwohl die Begegnungen sehr kooperativ ablaufen und wirklich abgestimmt sind auf die Bedürfnisse aller Beteiligten, ist sie es, die den Rahmen vorgibt, den Prozess initiiert und das Resultat später bearbeitet. In ihrer künstlerischen Praxis hat Alicja einige sehr kluge Lösungen für die grundlegenden Spannungen gefunden, wie sie sich im Bereich sozial engagierter Kunst häufig ergeben. Die Implementierung des Prozesses unterläuft nicht die Erwartungen der Beteiligten, deren Integrität respektiert und gewahrt wird; niemand wird hier um der Kunst willen „benutzt“.
Um dieses Thema im Zuge der Ausstellung genauer zu betrachten, haben wir Interviews mit mehreren Beteiligten an Alicjas Projekten in Auftrag gegeben. Bei Dokumentationen und Überlegungen zu partizipativer Kunst wird meist ausschließlich die Perspektive der KünstlerInnen oder der KuratorInnen vorgestellt. Aber wie wäre es, die Perspektive zu wechseln und zu untersuchen, welche Auswirkungen ein künstlerisches Projekt auf andere Menschen hat und wie diese eigentlich darüber denken, wenn es vorbei ist? Unsere Recherchen, deren Ergebnisse Sie in der Ausstellung sehen können, zeigen, dass die Menschen, die an Alicjas Projekten teilgenommen haben, sich daran noch immer lebhaft erinnern. Nach der anfänglichen Verwirrung, die daraus resultiert, an einer Aktivität beteiligt zu sein, mit der sie vorher noch nichts zu tun hatten, finden sie anscheinend großen Gefallen daran. Besonders an der menschlichen Interaktion, die die Situation mit sich bringt; sei es mit der Künstlerin, ihrem Team oder den anderen Beteiligten. Einige der Befragten empfanden die dabei entstandene Verbindung keinesfalls als oberflächlich: „Es war nicht so, als hätte es geheißen, wir haben euch hergeholt, jetzt macht was und dann tschüss! Sie waren wirklich verständnisvoll und fürsorglich!“, so ein Teilnehmer des Projekts The Alien’s Act. In einigen Fällen hatte die Teilnahme sogar Folgen für das Leben der Beteiligten, wie in dem Fall des Pflegers aus Onodera San's Dream For The Future (2018), der sich einem Theaterprojekt anschloss, in dem ältere Menschen zusammen mit professionellen SchauspielerInnen auf der Bühne stehen.
Was die Menschen verbindet, die an Alicjas Kunstprojekten teilnehmen, ist die Tatsache, dass sie sich aktiv mit der Realität auseinandersetzen, in der sie leben. Einige von ihnen gehören zu marginalisierten Gemeinschaften, andere nicht, aber sie alle haben etwas gemeinsam: Sie kämpfen dafür, die prekären Lebensbedingungen, unter denen sie und andere leben, zu verbessern. Durch ihre Beteiligung am künstlerischen Prozess machen sie häufig die Erfahrung der Solidarität mit den anderen. Die fragilen Gemeinschaften, die im Laufe dieses Prozesses entstehen, beruhen darauf, dass die Teilnehmenden in der gleichen wirtschaftlichen Situation sind, die gleiche soziale Herkunft oder ein gemeinsames politisches Anliegen haben – eine gemeinsame kulturelle Identität wird nicht vorausgesetzt. Viele der Beteiligten erinnern mich an die ProtagonistInnen aus Tomasz Rakowskis spannender anthropologischer Studie Hunters, Gatherers, and Practitioners Of Powerlessness. An Ethnography of the Degraded in Postsocialist Poland (bisher leider noch nicht ins Deutsche [2]. In diesem Buch analysiert der Autor die Erfahrungen von Menschen im ländlichen Polen, die bei dem politischen Wechsel vom Kommunismus zum Kapitalismus ihre Arbeit verloren. Das äußerst bewegende und aufschlussreiche Werk, das von der Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty inspiriert ist, bleibt nah an der Erfahrung seiner ProtagonistInnen und liefert eine aufschlussreiche Analyse ihrer Lebensbedingungen sowie ihrer Sprache. Im Gegensatz zu den Bildern von Passivität, Resignation und Hilflosigkeit, wie sie im polnischen Journalismus und in der akademischen Literatur zu mächtigen Tropen geworden sind, zeichnet der Autor nach, auf welche Weise seine ProtagonistInnen ihr Leben aktiv umgestalten: Sie sammeln Müll oder Kräuter oder gehen illegalen Bergbauaktivitäten nach. Wie sich herausstellt, weicht das anfängliche Gefühl der Erniedrigung und Hilflosigkeit, das sie erleben, häufig der Entdeckung vielfältiger Ressourcen (in der Natur, aber auch in der postindustriellen Landschaft mit ihren verlassenen Fabriken, Minen und Feldern), die die ProtagonistInnen dazu bringen, neue Fähigkeiten zu entwickeln, sei es eine geschärfte Wahrnehmung für die vorhandenen Ressourcen, die Ausübung von Sammeltätigkeiten, Recycling usw. Den künstlerischen Projekten von Alicja Rogalska gelingt es häufig, diese verborgenen Potenziale ihrer ProtagonistInnen zum Vorschein zu bringen und zu aktivieren und ein anderes, menschlicheres Bild von ihnen zu zeigen.
Was mir an Alicjas Arbeit besonders auffällt, ist ihr sinnlicher Aspekt. In vielen ihrer Projekte erschaffen die ProtagonistInnen Bilder, fertigen ihre Kostüme selbst an oder entwerfen ein Objekt (zum Beispiel ein Denkmal wie in The Monument to Victims of Capitalism, 2016). Aus ethischer Sicht verschafft diese „äußere“ materielle Ebene (in Wirklichkeit Ausdruck tiefster Emotionen und Wünsche) den beteiligten die Möglichkeit, mehr Kontrolle über ihre Darstellung in dem von der Künstlerin initiierten künstlerischen Prozess zu erlangen. Die Frauen des Chores von Kartal in Ungarn, die über ihr Leben auf dem Land singen (Hírdalcsokor / News Medley, 2020), verbrachten viel Zeit mit der sorgfältigen Vorbereitung ihrer wunderschönen Trachten für die Dreharbeiten. Kräftige Farben, kostbare Naturstoffe wie dicke, zu mehreren Lagen verarbeitete Wolle bilden einen Kontrast zu der „kaputten“ Umgebung, in der die Lieder vorgetragen werden (Gebäuden der ehemaligen örtlichen Genossenschaft, die durch das kapitalistische Wirtschaftssystem in den Ruin getrieben wurde) und verleihen den Sängerinnen eine fast schon monumentale Aura, die in Verbindung mit der filmischen Perspektive ein Gefühl von Stärke und Integrität vermittelt. Die „Gelöschten“ in The Aliens Act (2019) wiederum – Menschen, die nach Sloweniens Abspaltung von Jugoslawien im Jahr 1991 aus dem Einwohnermelderegister gestrichen wurden – beteiligten sich aktiv an der Herstellung von Kostümen, die ihre Identität zum Ausdruck bringen sollten: ein paradoxer Gedanke, denn die Folge der Löschung war eben die Auslöschung der Identität. Durch die Konstruktion von Kostümen aus Materialien wie Stacheldraht, Fahnen oder Zement fanden sie einen Weg, ihre traumatischen Erfahrungen auszudrücken und zu reflektieren. Das materielle Objekt, eine traditionelle Domäne der Kunst, wird zu einem Medium, das es ermöglicht, die trennenden Strukturen und Grenzen der Sprache zu überwinden. In NOVA (2020) und The Ones who Walk Away (2017) helfen die Kostüme (zum Beispiel Schaumstoffstrukturen, die die Verbindung mit anderen betonen sollen), sich auf das Live-Rollenspiel einzustimmen, sie regen die Fantasie an und machen es einfacher, neue Möglichkeiten zu erkunden. In gewisser Weise ruft die materielle „Hülle“ hier als Quelle komplexer Sinneseindrücke eine Vielzahl von Assoziationen hervor und erweitert dadurch den Interpretationsrahmen des Bildes um neue Bedeutungen. Auf diese Weise ist es möglich, die Komplexität der uns offenbarten Erfahrung zu bewahren und diese in einen neuen Kontext zu versetzen, in dem das Individuelle universeller wird und sich leichter mit anderen teilen lässt. In ihrer Fähigkeit, Gefühle und neue Gedankengänge hervorzurufen, ähneln die Kostüme/Monturen/Kleider/Requisiten den „theoretischen Objekten“ von Georges Didi-Huberman, „Dingen, die ‚denken‘“ – natürlich mitsamt den Menschen, die sie benutzen.
Durch Alicjas ganz eigenen Arbeitsprozess besitzt das fertige Kunstwerk etwas Dokumentarisches, eine spezielle „Echtheit“, ist aber dennoch sehr fantasievoll. Dieser Aspekt ihrer Arbeit verdient besondere Aufmerksamkeit: Es ist schon fast eine Binsenweisheit, dass wir in einer Zeit leben, in der die menschliche Vorstellungskraft in einer Krise zu stecken scheint. Enttäuscht vom utopischen Denken und seiner postmodernen Kritik suchen wir angesichts wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Herausforderungen nach neuen Wegen, um über die Zukunft nachzudenken, und nach Mitteln, die uns helfen, diese zu erreichen. Und das ist keine leichte Aufgabe, wie Max Haiven schreibt:
„Ironischerweise bietet der Kapitalismus heute jedoch mehr Möglichkeiten für Imagination als je zuvor. Im Zeitalter von ‚Prosument‘ und Internet erhalten wir immer mehr Werkzeuge und Möglichkeiten, Dinge neu zu mischen und anzupassen, uns Subkulturen anzuschließen (und sie zu verlassen) und unsere Individualität zum Ausdruck zu bringen, vorausgesetzt, wir tun dies in der ‚Sprache‘ des Marktes. Das heißt, solange wir weiterhin Geld verdienen oder ausgeben. In unserer gegenwärtigen kapitalistischen Ordnung bleibt sogar Raum für Aktivitäten, die weitgehend außerhalb des Marktes existieren (Religion, Schulbildung, sich selbst ausgrenzender Aktivismus, Urban Gardening), solange sie isoliert bleiben und die allgemeine Weltordnung nicht gefährden. Tatsächlich werden diese außerhalb des Marktes stattfindenden Aktivitäten als ‚Belohnung‘ für das Arbeiten und Kaufen während unseres restlichen Lebens angepriesen.“ [3]
In einer Welt, in der die Vorstellungskraft verkümmert, werden Utopien von Dystopien verdrängt und differenziertere Modelle der Reflexion vollständig durch die einfache Dichotomie zwischen den beiden ersetzt. In einer solchen Situation bedarf es einer radikalen Vorstellungskraft, die es uns ermöglicht, der von den „Traumfabriken“ geschaffenen Falle zu entkommen und die intellektuellen und emotionalen Muster zu durchbrechen, die uns unfähig machen, uns eine andere Welt als die unsere vorzustellen. Und genau das geschieht in vielen der Werke von Alicja Rogalska: Die TeilnehmerInnen machen Erfahrungen, die in ihrer eigenen Realität und Lebensgeschichte verwurzelt sind, und doch wagen sie sich durch das gemeinsame Projekt innerhalb einer bestimmten sinnlichen Umgebung, die von der Künstlerin geschaffen wird, in andere „mögliche Welten“ vor. Durch die Verankerung des Kunstwerks in einer realen Welt vermeidet die Künstlerin die für viele Kunstprojekte typische ‚Isolierung‘.
In seinem Buch Protheus and the Radical Imaginary reflektiert Kristupas Sabolius über den Bereich der Imagination als Lebensraum von Wesen und Impulsen, die aktiv in unsere Realität eindringen und diese verändern. Unter Bezugnahme auf Autoren wie Quentin Meillassoux, Jacques Derrida, Henri Bergson, Immanuel Kant, Pietro Montani, Gilles Deleuze, Jean-Jaques Wunenburger und Jacques Rancière und unter Verwendung von Begriffen wie Virtualität, Potenzialität und Montage beschreibt Sabolius die Imagination als Schlüsselfaktor der Epistemologie und auch der Ontologie für die Auseinandersetzung mit den herrschenden philosophischen Traditionen. In seinem Text wird das Imaginäre zu einer emanzipatorischen Form des Nichtwissens ohne klar definierte Ziele, um die Schemata, die uns zum Verständnis der Realität dienen, auseinanderzunehmen und neu zusammenzusetzen. Der Kunst kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, denn hier kann die Imagination sich frei entwickeln. Der Autor analysiert Film- und Kunstwerke sowie Ausstellungen und zeigt, wie sie unser Verständnis von Imagination und deren Potenzial vertiefen. Unter Bezugnahme auf Sartre schreibt er:
„(...) wenn wir das Portrait Karls VIII. in den Uffizien betrachten, sind wir mit der Ambivalenz konfrontiert, die sich daraus ergibt, dass das Bild die Realität täuschen möchte. Einerseits ist uns klar, dass wir das Bild eines toten oder nicht existierenden Menschen sehen. Andererseits appelliert das Bild aber auch aktiv an die Sinne des Betrachters – die verzogenen, sinnlichen Lippen des Monarchen verändern den Wahrnehmungsprozess, indem sie eine bestimmte Emotion hervorrufen. Wenn wir uns von dem Gemälde wegbewegen und beginnen, es uns ins Gedächtnis zu rufen, verschwindet letztendlich der Dualismus von Bild und Original. (...) Obwohl die vom Bewusstsein vorgenommene Vereinheitlichung sehr ungenau ist, sie offenbart einen dynamischen Charakter des Bildes, in dem aus Sehen Wahrnehmen wird. In der Tat ist es völlig gleichgültig, wer – als reale Person – in diesem oder jenem Bild abgebildet ist. (...) Im Raum des Imaginären, das Bild ermöglicht einen Prozess der Verwandlung, bei dem der Unterschied zwischen Original und Kopie aufgehoben wird. Oder, genauer gesagt, wichtig ist nur der Unterschied selbst, das Werden, das nicht mehr von Bild oder Betrachter abhängt, sondern dort entsteht, wo diese sich treffen, in dieser inneren Dimension, die zur Quelle aller Hoffnungen, Ängste und Wünsche wird. Das Imaginäre, das das Bild eröffnet, manifestiert sich als eine zeitliche Intensität, die als vermittelnde Begegnung mit dem unartikulierten Unbekannten der Welt entsteht. Sie ist eine proteische Energie, die für einen Moment im Bild gefriert – und doch nicht mit ihm übereinstimmt. Das Bild ist die Phase, die neue Spielarten des Imaginären hervorbringt.“[4]
In ähnlicher Weise verliert in den Projekten von Alicja Rogalska der Unterschied zwischen dem Realen und dem Künstlichen durch die Teilnahme an scheinbar künstlichen Situationen an Bedeutung und der Bereich der Möglichkeiten, des Unbekannten, wird aktiviert. Diese ‚Vereinheitlichung‘ zeigt sich besonders in immersiven Situationen, die sie konstruiert oder benutzt, wie denen von LARP-Spielen. Die Erfahrung der Potenzialität bleibt bei den TeilnehmerInnen und BetrachterInnen des Kunstwerks und ermöglicht es ihnen, der Realität jenseits der Kunst auf neue Weise zu begegnen. Die sinnliche Ebene der Begegnung – Kostüme, Requisiten etc. im Grunde unterschiedliche Arten körperlicher „Erweiterungen“ – erhöhen, durch die „plastische Kraft“ der situierten Neukomposition/Neukonfiguration [5], das Ausmaß der Immersion, helfen, sich in der „neuen“ möglichen Welt zurechtzufinden und diese als echte Möglichkeit und nicht nur als flüchtiges Konstrukt des Verstandes zu betrachten. Dieser Weg ist natürlich nicht immer einfach. Paradoxerweise ist das Werk mit den vielversprechendsten Voraussetzungen – in Dreamed Revolution (2014–2015) lud die Künstlerin AktivistInnen ein, sich von einem professionellen Hypnotiseur hypnotisieren zu lassen, um sich vorzustellen, wie die Zukunft ihrer Stadt aussehen könnte – vielleicht nicht unbedingt so fantasievoll wie die anderen in der Ausstellung. Obwohl der Bereich des Unbewussten aktiviert wurde und einige der TeilnehmerInnen sogar ein anderes Körpergefühl erlebten, handelt es sich bei den Ergebnissen meist um bekannte Utopien der Vergangenheit. Liegt es daran, dass das Imaginäre nur in den Köpfen der TeilnehmerInnen, ohne Inszenierung mit Requisiten und Kostümen, wie beispielsweise bei NOVA, hervorgerufen wird?
In ihren Texten zum Konzept der Demokratie im Präsens schreibt Isabel Lorey, die Subjektivierung habe das „Potenzial sozial transformierender Ermächtigung – nicht als bewusste politische Handlung eines autonomen Subjekts, sondern in den Praktiken und Momenten der konstituierenden Macht der Vielheit“ [6]. In der Absicht, das übliche Verständnis von Unmittelbarkeit und Präsenz als Negation politischer Repräsentation, ein ungewolltes Vermächtnis Hegelschen Denkens, in Frage zu stellen, nutzt sie Benjamins Begriff der Jetztzeit, um all das zu validieren, was zur Entstehung neuer politischer Subjektivitäten beiträgt. Sie distanziert sich vom Konzept der Linearität und des Fortschritts und schreibt: „Demokratie im Präsens durchbricht liberaldemokratische Zeiten und Räume. Sie wird zu einer neuen Form von Demokratie, die auf Affektivität und Relationalität basiert und in der ein ‚gutes Leben‘ für die Vielen möglich ist. Demokratie im Präsens lebt nicht von einem aufgeschobenen Versprechen in die Zukunft. Sie wird in der Aktualität, in der Jetztzeit der Kämpfe bereits praktiziert.“ [7] Für die Prekären ist die Verbindung zur Vergangenheit unterbrochen und die Zukunft kann so nicht projiziert werden: „Man muss in der Lage sein, einen Neubeginn zu wagen und das Werden in der Gegenwart bejahen. Die Praktiken des Handelns, Denkens und Fühlens setzen nie nur das fort, was vergangen ist; sie sind nicht einfach Routine oder Gewohnheit.“ [8] Indem sie Menschen in temporären Kollektiven zusammenbringt, nutzt Alicja Rogalska das Potenzial der Kunst, uns im gegenwärtigen Moment festzuhalten und diesen zu verlängern; ihr gelingt es, ihren ProtagonistInnen zu helfen, sich als Subjekte innerhalb einer bestimmten kollektiven Perspektive neu zu konstituieren. In gewisser Weise entsteht hier durch ein künstlerisches Projekt ein Netzwerk der Solidarität, das über die Dauer des Projekts hinaus fortbestehen kann. Die sinnliche Ebene der Arbeiten trägt dazu bei, die emotionale Landschaft, die die ProtagonistInnen in sich tragen, ihren spezifischen individuellen „Boden“, auszudrücken und zu festigen. Die kollektive Anstrengung im Rahmen eines künstlerischen Projekts lässt eine andere Landschaft – einen Horizont, eine Öffnung, einen Riss – entstehen, die es ermöglicht, über den rechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Status quo hinauszugehen. Die Ausstellung von Alicja Rogalska in der Temporary Gallery, Zentrum für zeitgenössische Kunst ist eine Aufforderung, diesen Weg „vom Boden bis zum Horizont“ zu beschreiten. Die einzigartige Ausstellungsarchitektur besteht aus einer Landschaft aus mit Heu gefüllten Stoffskulpturen. Das angenehme Ambiente lädt dazu ein, mehr Zeit im Ausstellungsraum zu verbringen. Die Kunstwerke sind in drei Gruppen unterteilt: Der erste Raum (grün) umfasst Werke, die sich mit der Landschaft, ihren sozio-politischen Veränderungen und der landwirtschaftlichen Arbeit befassen. Der mittlere Raum (rot) ist der emotionale Kern der Ausstellung und den Auswirkungen des Kapitalismus auf den Körper gewidmet. Der letzte Raum (violett) umfasst Werke, die sich mit neuen Wegen in die Zukunft beschäftigen.
Zu Beginn dieses Essays habe ich von meinem persönlichen Hintergrund – meinem „Boden“ – erzählt, durch den es mir möglich ist, die Arbeiten von Alicja Rogalska auf intensivere, persönlichere Weise wahrzunehmen. Was ist Ihr „Boden“, Ihr „HinterGRUND“ als BesucherIn dieser Ausstellung? Gibt es etwas in Ihrem Leben, durch das Ihnen diese Ausstellung neue Horizonte eröffnen könnte? Wie sähe Ihr eigener Weg „vom Boden bis zum Horizont“ aus?
[1] Besuchen Sie den Youtube-Kanal der Temporary Gallery, um eine Playlist mit den Filmen zu sehen: https://www.youtube.com/channel/UCArY8i3jp9yGV8sCmUwaVtg.
[2] Tomasz Rakowski, Hunters, Gatherers, and Practitioners Of Powerlessness: An Ethnography of the Degraded in Postsocialist Poland, Berghahn Books, New York Oxford 2016.
[3] Max Haiven, Alex Khasnabish, What Is the Radical Imagination? A Special Issue, in Affinities: A Journal of Radical Theory, Culture, and Action, 2010, 4/2; Max Haiven, Crises of Imagination, Crises of Power: Capitalism, Creativity and the Commons, London New York 2014, 242–243.
[4] Kristupas Sabolius, Proteus and the Radical Imaginary, Contemporary Art Centre, Vilnius, Bunkier Sztuki Gallery for Contemporary Art, Kraków 2016, 163–164.
[5] Isabell Lorey, Presentist Democracy. Reconceptualizing the Present, in: Quinn Latimer, Adam Szymczyk (Hg./ed.), documenta 14. Munich: Reader, Prestel 2017, 186.
[6] Isabell Lorey, Presentist Democracy: The Now-Time of Struggles, in: Andreas Oberprantacher, Andrei Siclodi (Hg./ed.), Subjectivation in Political Theory and Contemporary Practices, Palgrave Macmillian London South Yarra Sydney 2016, 152.
[7] Op. cit., 160.
[8] Isabell Lorey, Presentist Democracy. Reconceptualizing the Present, 185.
Aneta Rostkowska
Förderung und Unterstützung
Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen
Kunststiftung NRW
DAAD
NRW Kultursekretariat
Rudolf Augstein Foundation
Kulturamt der Stadt Köln
Deltax Wirtschafts- und Steuerberatungsgesellschaft mbH
Hotel Chelsea
Bilder
1 — News Medley, 2020, Videostill, Courtesy: Alicja Rogalska, Katalin Erdődi, Réka Annus und the Women’s Choir of Kartal